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Spiel auf Zeit | GIMS 2019

Beim Internationalen Autosalon in Genf bemüht sich die Autobranche um einen möglichst glänzenden Auftritt. Erste Falten im einst stolzen Antlitz sind unübersehbar, die Ausstellungsfläche schrumpft trotz vieler neuer Marken - meist fernöstliche Firmen oder elektrische Ableger bekannter Lieferanten. Das Interesse am Verbrenner schwindet. Als bestes Auto wurde der elektrische Jaguar I-Pace ausgezeichnet. Dazwischen immer mehr kleine und kleinste Fahrzeuge bis zum Tretroller. Ebenfalls alle elektrisch. Strom reißt alle mit.

Text und Fotos: Matthias Breust


Auf dem Weg vom Flughafen zum Eingang der Geneva International Motor Show (GIMS) thront ein blauer Bugatti Chiron aus Legosteinen (oben Mitte). Das lebensgroße Modell wirbt für einen Baukasten, der bei uns für knapp 400 EUR zu haben ist. Trotz Gangschaltung, 8-Zylindermotor, Federung und versenkbarem Spoiler ist das sehr viel Geld für ein Spielzeug, aber eine durchaus passende Einstimmung auf einen Rundgang durch den Autosalon. Ist mit Friedrich Schiller "der Mensch nur dort ganz Mensch, wo er spielt"? Ist es normal, für ein Auto einen zweistelligen Millionenbetrag zu bezahlen?

Der echte Bugatti und der teuerste Neuwagen warten erst am Ende des Rundgangs. Dazu eilt der Besucher vorbei an Smart "forease" (o.l.), VW "ID Buggy" und Citroen "Ami One" (r.). Diese kleinen effizienten Spielzeugautos könnten die Zukunft der Mobilität sein. Allein die Anzahl der auf dem Autosalon ausgestellten Zweisitzer zeigt das wachsende Interesse. Sie kommen nicht nur freundlich und sympathisch rüber, sie alle fahren zudem mit Strom und reduzieren den benötigten Raum eines Pkw. Damit reagieren sie gleich auf mehrere Anwürfe, die dem Auto gemacht werden.

Aber die eigentliche Überraschung der GIMS 2019 sind nicht die kleinen E-Autos, sondern die noch kleineren Fahrzeuge, die Personal Light Electric Vehicles (PLEVs). Die großen Konzerne haben eScooter schon lange im Portfolio, eine Beigabe im Kofferraum als Mobilitätshilfe für die allerletzten Meter - den Weg vom Parkplatz zum Bürostuhl. Nach der Enscheidung des BMVI können die PLEVs nun auch in Deutschland vermarktet werden. Die Fotos zeigen verschiedene Modelle von Skoda (Mitte) und Cityskater (l.) und Streetmate von VW.
Über ihren elektrischen Antrieb schmuggelte sich als einziges Motorrad der GIMS die Harley Davidson "LiveWire" (o.l.) auf den Stand unserer Schweizer Kolleg*innen von e'mobile, seit einigen Jahren eine Fachsparte des Branchenverbands "electrosuisse". Die LiveWire dürfte sinnbildlich für den Vormarsch der Elektromobilität stehen. Bei dieser ersten Präsentation in Europa versteckte sie sich noch hinter zwei Kleinkrafträdern ebenfalls von Harley Davidson (M.) und dem Schweizer Stehtrike BiCar (r.).

Die wichtigste Attraktion des e'mobile-Stands war das TWIKE 5 (l.). Martin Moescheid vom Hersteller FINE mobile führte an der Rohversion die Verbesserungen vor, die teilweise im vorigen TXP berücksichtigt und jetzt zur Serienreife gebracht wurden. Das TWIKE 5 kann vorbestellt werden mit diversen Personalisierungen bis zur Spitzengeschwindigkeit von 190 km/h und einer Reichweite von über 500 km.

Dem autonomen Kleinbus Olli (u.M.) ist seine Funktionalität leicht anzusehen. Er hat Sitzplätze für sechs Leute, ebensoviele wie der Luxus-"Mover" von e.Go (u.l.), in dem nur noch Whiskeygläser und James-Bond-Filme auf dem gigantischen Multimedia-Screen zu fehlen scheinen.

Der e.Go-Stand zeigte am deutlichsten, wo die Reise letztlich hingeht für die Automobilbranche. Die Fahrzeuge sind Teil von Mobilitäskonzepten, in denen die einzelnen Fahrzeugtypen vom Bus bis zum eScooter an entsprechenden Stationen (neudeutsch "Hubs") je nach Einsatzzweck gewählt werden können. Das Auto soll nicht mehr in der Garage auf die Gelegenheit warten, Kollegen im Golfclub zu beeindrucken oder die Familie an die Riviera zu bugsieren, sondern möglichst effizient und bequem nur für die Zeit der Beförderung verfügbar sein.

Der e.Go "Life" geht Mitte März in Serie, die ersten Autos werden im Mai ausgeliefert. In Genf konnte man die Serienversion und ein Konzept namens Sport sehen.

Von den großen Herstellern hat Fiat bislang am längsten gezögert, einen elektrischen Kleinwagen ins Portfolio zu nehmen. Beim Autosalon präsentierten sie das Konzept Centoventi (l.).


Die Zukunft fährt elektrisch
Endlich sei das Thema Elektromobilität auf dem Genfer Autosalon angekommen. Martin Kyburz lächelte kurz: "Das ist doch toll!" Sein Blick kreist durch die Halle, in der auf fast allen Ständen BEVs präsentiert werden. Auf Augenhöhe mit den Verbrennern: alle Fahrzeuge scheinen direkt auf dem Hallenboden zu stehen. Aufbauten haben die Stände traditionell nicht, nur am Rand durfte es etwas höher hinaus gehen. "Oben" heißen die Hallen 1 und 2, weil sie einige Meter über den übrigen vier Hallen liegen. Alles ohne Zwischenwände.

AUDI Peugeot Volvo
BMW hat seinen Formel-E-Boliden präside postiert (l.), auch der VW ID Buggy hat eine Bühne bekommen. Bei Audi steht das Café Electrique (r.) zwar zwischen konventionellen und hybriden Modellen, die Richtung ist klar. Mit Audi e-tron, Peugeot eLegend und Polestar 2 (oben v.l.n.r.) haben wir drei Modelle herausgegriffen, die es wohl auch auf die Straße schaffen.
AUDI

Auch Porsche muss in diesem Zusammenhang genannt werden, die außerdem mit der Zahl der Vorbestellungen für ihren Taycan geprahlt haben. Stellvertretend für die "Supercars" - so kennzeichnet die Szene besonders ambitionierte Modelle - ist die Renault-Studie ZE ultimo zu nennen, innen Lounge (u.l.) und außen Gürteltier (u.M.), das für mich einen Bogen schlägt zurück zum Eingang der GIMS, wo jemand ein Sportcoupè aus Getriebeteilen zusammengeschweißt hat (u.r.). Unten rechts der Pininfarina Battista, der in diesem Setting fast konventionell wirkt.

Die Entwürfe des Auto-Designers Franco Sbarro zeugen von größter Kreativität.  Bei der EL-Rickshaw links hat Kyburz die Technik beigesteuert, wie man an der Farbe sieht. Jeder Eidgenosse kennt die elektrischen Dreiräder, die Kyburz selbst herstellt - für die Post. Der Tracto-Sphere (M.) wirkt ebenso futuristisch wie retro.

Vater Wim und Bruder Merlin begleiteten Oliver Ouboter zu seinem Vortrag in der Shift-Konferenz. Wer nach dem eindrucksvollen Imagefilm (mit dem Ampelrennen gegen einen Ferrari) in einem Microlino Platz nehmen wollte, landete auf dem Teppich. Die geplante Shift-Ausstellung und damit auch der Auftritt des Zweisitzers waren leider nicht zustande gekommen. Vielleicht sehen wir den Microlino im Juni wieder bei der WAVE, meinte Merlin Ouboter am Rande der Konferenz.

Die alte Welt ist noch nicht ganz versunken

Der Autosalon war immer schon eine Luxusveranstaltung, auf der hochgezüchtete PS-Boliden und Hochzeitskutschen mit Chrom und Leder vorgeführt werden. Dutzende restaurierte Oldtimer glänzen wie neu. Unablässig wird poliert und gefegt. Wie im Museum scheint kaum ein Auto zum Fahren gemacht. Selbst die Präsentationen von Familienkisten werden in den historischen Zusammenhang früherer Modelle gestellt. Inzwischen aber umweht auch die nagelneuen alltagstauglichen Verbrenner der morbide Charme des Untergangs.

Des andren Freud
Der Rückzug von Jaguar/Land Rover, Ford, Volvo, Opel und Hyundai, und die Kürzungen anderer schaffte Platz für kleine Unternehmen wie Kyburz, die ihre eRods ausstellten in den Versionen stripped, decent und off-road (meine Bezeichnungen). Das Aachener StartUp Share2Drive zeigte den Prototyp des SVEN (u.r.), entworfen für Sharing-Services. Der Nobe (l.) war schon als mock-up auf der eMove360° zu sehen, nun ist das Retrodreirad aus Estland fahrbereit. Sie alle profitierten vom Leerstand.

Der Name Piëch lässt aufhorchen, bestimmt doch diese Familie seit Langem die Geschicke des Volkswagen-Konzerns. Anton, Sohn des früheren VW-Chefs Ferdinand Piëch, zeigt den "Mark Zero" mit 500 km Reichweite zur GIMS, dessen größtes Plus die Ladezeit von unter fünf Minuten bis 80% SOC ist, daher nur ein Foto des Chassis (M.).

Zwischen Piëch und dem allerteuersten Pkw stehen die Sportwagen der BIAC-Enkelin Arcfox, denen die Motorisierung nicht anzusehen ist. Auch wenn sie lokal emissionsfrei fahren, sind diese Wagen eigentlich nur unter einem Aspekt nachhaltig, beim Verhältnis vom Preis zur Fläche: Mit den geschätzt 14 Mio. EUR für nur ein einziges Auto wie den Bugatti "Voiture Noire" könnte man auch ein paar Hundert normale Pkw kaufen.

Elektrisch ist das neue Normal
Die Schweizer "Auto Illustrierte" verteilte eine Ausgabe mit den Neuvorstellungen der GIMS - O-Ton: "endlich Infotainment im Lamborghini" -, und behandelt darin ein paar wenige Stromer wie ganz normale Neuheiten. Allerdings fahren alle im Heft vorgestellten Audis mit Benzin, obwohl auf deren GIMS-Stand vorwiegend e-trons und Plug-in-Hybride stehen.

Zum Abschluss ein Bild des Cargo-eBikes von VW, das zur Warnung die Klappe zu seinem riesigen Stauraum aufreißt. Es ist wahrscheinliche das sinnvollste Fahrzeug des ganzen Autosalons, wenn auch nur als Konzept. Also besteht durchaus Hoffnung für den angeschlagenen Konzern, aus der Krise des Verbrenners mit völlig neuem Profil hervorzugehen.

Voraussichtlich verlassen die allerwenigsten Autos die GIMS-Hallen aus eigener Kraft, obwohl eine Autobahn unter dem Gebäude entlang führt. Die Fahrzeuge werden vorsichtig zurück in Garagen, Werkstätten, Showrooms und Museen gebracht. Wer sich einen Bugatti aus Lego baut, lässt doch nicht seine Kinder damit spielen, sondern stellt sie in die Vitrine.