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Wir haben keine Wahl

Die künftige Bundesregierung muss die Dekarbonisierung auch im Bereich Mobilität ernsthaft vorantreiben. Die Einhaltung der Klimaziele von Paris erfordert erhebliche Anpassungen. Wir brauchen ein Tempolimit in Städten und auf Autobahnen, müssen uns von Brennstoffzelle und Synth-Fuels im Pkw verabschieden und vor allem kleinere Vehikel fahren. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen werden dem Markthochlauf der Elektromobilität nicht mehr gerecht, Sektorenkopplung und der Ausbau Erneuerbarer Energie-Anlagen brauchen Unterstützung, und ein Verkehrsminister sollte nicht für die neuen Straßen in seinem Wahlkreis gelobt werden, sondern für sein Engagement in Sachen Verkehrswende.

von Thomic Ruschmeyer und Matthias Breust

(29.09.21) Die SPD ist als stärkste Partei aus der Bundestagswahl hervorgegangen, die Grünen haben erheblich gewonnen. Diese Erfolge gehen auf Kosten der CDU, die ohne Angela Merkel deutlich verloren hat. Ein gutes Ergebnis erzielte auch die FDP, die nun mit den Grünen bereits Gemeinsamkeiten und Differenzen auslotet, bevor sie in Koalitionsverhandlungen mit den Volksparteien eintreten. „Da hat man noch ein - voraussichtlich letztes - Mal die Wahl in Sachen Klima!“, so Thomic Ruschmeyer, Vorsitzender des BSM e.V.

Unabhängig von der Regierungsbildung gilt der Klimaschutz und besonders die Dekarbonisierung als vordringliche Aufgabe. Alle Parteien haben sich zu den Klimazielen von Paris bekannt. Selbst wenn sie vorgeblich auf Ausstiegs-Szenarien oder Verbote verzichten wollen, kommen sie um erhebliche Einschnitte nicht herum. In den Wahlprogrammen finden sich jedenfalls keine hinreichenden Maßnahmen, um bis 2030 die 1,5°C-Marke einzuhalten.

Der BSM hat im Folgenden die wichtigsten Punkte gesammelt und bietet seine Mitarbeit im Detail an:

ELEKTROMOBILITÄT

Der starke Anstieg bei den Zulassungszahlen bei der Elektromobilität macht Hoffnung, dass eine Trendwende geschafft ist. Die massive Förderung steht zwar weiter unkommentiert da, eine mediale Begleitung durch die Politik findet nicht statt, von der Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen ganz zu schweigen.

Wenn die Mobilität in der EU verhandelt wurde, vertrat Kanzlerin Merkel jedenfalls nicht die Interessen der Menschen. Insgesamt wirkt die Unterstützung der Politik daher wie ein gigantisches Konjunktur-Programm für die Automobilindustrie, obwohl die sich trotz Corona-Krise prächtiger Umsätze erfreut (was auch am Kurzarbeitergeld liegen könnte, das sie weiterhin für ihre deutschen Produktionsstätten kassiert).

Weil auch Plug-in-Hybride und elektrische SUVs gefördert werden, fehlt eine Lenkungswirkung Richtung nachhaltiger und effizienter Mobilität. Eigentlich verdienen kleine und kleinste Fahrzeuge Unterstützung, nicht nur durch besondere Kaufanreize, sondern durch Nutzervorteile. Eine zukunftsfähige Politik zeichnet sich dadurch aus, dass der Nutzwert optimiert wird. Beim Auto ist der Spielraum seit Langem überreizt. Wenn endlich der rote Teppich eingerollt würde, auf dem sich der Kraftverkehr häuslich eingerichtet hat, könnten kleine Autos, elektrische Drei- oder Zweiräder und motorisierte Skateboards und ähnliche Fahrzeuge ihre Vorteile ausspielen.

LADEINFRASTRUKTUR

Der Aufbau der Ladeinfrastruktur hat in den letzten Monaten deutlich zugelegt. Die Branche boomt. Die erste Verordnung aus dem März 2016 hat der Bundestag kürzlich neu gefasst. Einige Schwachpunkte wie die Definition von "öffentlich zugänglich" wurden dabei zwar beseitigt. Aber die Pflicht, ab 2023 Kartenlesegeräte zu installieren, damit auch ad hoc mit Kredit- oder Girokarte bezahlt werden kann, wird stark kritisiert. Noch 2015 wären dies vielleicht willkommen gewesen. Aber in zwei Jahren werden nur noch deutsche E-Mobilisten mit RFID-Karten unterwegs sein, während der Rest der Welt mit dem Telefon bezahlt. Durchsetzen wird sich letztendlich das Prinzip "Plug & Charge" wie bei Tesla: Man verbindet Auto und Ladepunkt, und die beiden klären den Rest untereinander.

Mit dem Schnellladegesetz hatte der Bundestag im Mai 2021 die Voraussetzungen geschaffen für den Ausbau von Ladepunkten über 150 kW Ladeleistung. Außerdem wurde ein Verfahren namens "StandortTOOL" bei der NOW GmbH und deren „Leitstelle Elektromobilität“ aufgehängt, das die Verteilung bedarfsgerecht gestalten soll. Inwiefern es gelingt, synchron mit dem Markthochlauf der Elektromobilität ausreichend zuverlässige Ladepunkte verfügbar und das Aufladen vertrauenswürdig und sicher zu machen, bleibt abzuwarten.

ALTERNATIVE ANTRIEBE

Die Diskussionen um die Alternativen zum batterie-elektrischen Antrieb verwundern immer auf's Neue. Der Durchbruch der teuren und ineffizienten Brennstoffzelle stehe unmittelbar bevor, behaupten ihre Unterstützer seit 30 Jahren. Beim Pkw wird diese aussichtslose Schlacht von interessierter Seite weiter geschlagen, aktuell soll der flüssige Wasserstoff aus der Wüste importiert werden. Selbst wenn hier Fortschritte gemacht würden, wird sich die Brennstoffzelle wohl nicht mehr gegen den batterie-elektrischen Antrieb durchsetzen können.

Eine Informationskampagne einer neuen Bundesregierung könnte dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr glauben, der Wasserstoff würde in derselben Weise verbrannt wie bisher das Benzin im Auto. Die Brennstoffzelle erzeugt Strom für einen Elektromotor, der zusätzlich eine Batterie für die Lastspitzen benötigt. Argumente gegen die Batterie gelten damit auch gegen Wasserstoff. Getankt wird außerdem unter erschwerten Bedingungen aus Behältern, die erheblich dichter sein müssen als für Benzin und zudem unter Druck stehen, weil sich der Wasserstoff nicht einfach wie Benzin in den Tank fließen lässt. Der vorhandene grüne Wasserstoff wird in der Industrie und anderen kritischen Feldern gebraucht und sollte als rares Gut nicht im Pkw bei bescheidenem Wirkungsgrad ver(sch)wendet werden.

Noch schlechter sieht bei Synth-Fuels aus, die zunächst flüssigen Wasserstoff als Grundlage brauchen und am Ende im Betrieb eben soviel Lärm und Abgase produzieren wie fossile Verbrenner. Klimaneutral werden Synth-Fuels nur mit größtem Aufwand, finanziell dürften sie daher nie konkurrenzfähig sein. Ihr Einsatz muss auf eine Übergangsphase beschränkt bleiben.

AUSBAU ERNEUERBARE ENERGIEN

Die bisherige Bundesregierung hat die Errungenschaften der letzten rot-grünen Zeit weitgehend zurückgedreht. Das EEG wurde für viele Bürger zum Symbol von Beutelschneiderei. Dabei ist es seit 20 Jahren nicht nur die Basis für den Ausbau der Erneuerbaren Energien, es bleibt ein wirksames Instrument - in der Hand einer vernünftigen Administration. Weltweit hat das EEG sehr viel Anerkennung und auch Nachahmer gefunden.

Momentan wird kaum noch in Photovoltaik und Windenergie investiert. Dies muss die Politik wieder in Schwung bringen, um - nicht nur - die E-Mobilität emissionsfrei zu versorgen.

SEKTORENKOPPELUNG

Eine Strategie für den Ausbau der Erneuerbaren Energien muss die Elektromobilität ebenso wie die Verkehrsplanung insgesamt einbeziehen. Das Potential der rollenden Energie-Speicher lässt sich allerdings nur heben, wenn die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Bisher gilt ein Auto, das den Strom zurück in das Versorgungsnetz speist, als Stromlieferant. Für diese Netzdienstleistung wird der Halter des Pkw mit zahlreichen bürokratischen Aufgaben bestraft. Dabei hätte er eine Belohnung verdient, erspart er doch dem Netzbetreiber eine erhebliche Investition. "Elektrische Autos könnten der Integration Erneuerbarer Energien in ein nachhaltiges Energiekonzept der Zukunft helfen,“ hofft BSM-Vize Matthias Breust.

Diese Zusammenhänge haben wir mehrfach ausführlich dargelegt und sind gern bereits beratend zu unterstützen. Wer hier ein "Reallabor" beobachten will, sollte sich bei Tesla-Kunden umhören. Das amerikanische Automobil-Unternehmen bietet alle notwendigen Geräte von der Solarzelle über stationären Speicher bis zur Wallbox zum Kauf an und tritt - über das umfassende Netz an Ladeinfrastruktur hinaus - bereits als Stromversorger auf.

TEMPOLIMITS

Unter dem Gesichtspunkt der Dekarbonisierung mag die Wirkung einer Geschwindigkeitsbegrenzung gering sein. Aber der Widerstand hat religiöse Züge, ist Deutschland doch weltweit das einzige zivilisierte Land ohne Tempolimit auf Autobahnen. Der Verdacht, eine Begrenzung auf 130 km/h raube der Automobilindustrie ein Marketing-Argument im Ausland, lässt sich nicht dadurch entkräften, dass die Autofahrer selbst protestieren. Ohne Beschränkungen würde auf den Straßen gar nichts funktionieren, Kraftfahrzeuge würden sich und anderen gegenseitig im Wege sein. Bei Tempo 130 km/h wird der Verkehrsfluss sicher und gleichmäßig, und der Verbrauch von Ressourcen wird geschont, ob Strom oder Sprit.

In Wohngebieten gilt bereits häufig Tempo 30 km/h, viele Städte haben das Limit ausgedehnt auf alle Straßen. Das Durchschnittsgeschwindigkeit liegt sowieso niedriger, aber allen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer*innen wird das Leben erheblich erleichtert. Wäre der Schutz der Gesundheit hier so bedeutsam wie etwa bei der Corona-Pandemie, wäre der Kraftverkehr in Ballungsräumen nur unter Vorlage einer amtlichen Erlaubnis möglich.

AUTOFREIE STADT

Der Wahlsonntag hat in Berlin nebenbei gezeigt, welcher Verkehrsträger zuverlässig und schnell ist. Mit Lastenfahrrädern hätten die Verantwortlichen die benötigten Wahlzettel leichter eingesammelt als mit Autos, die nicht recht vorwärts kamen wegen der umfangreichen Sperrungen in der Innenstadt. Man fragt sich, was diese Menschen bisher an den jährlichen Marathonsonntagen gemacht haben, an denen der Verkehr immer vollständig zum Erliegen kommt.

Auch wenn die Städte und Kommunen hier weitgehend frei verfügen können, bleiben einige Hindernisse aus dem Bundesrecht. Die Pflicht etwa, den Verkehrsfluss auf Bundesstraßen sicherzustellen, beschert vielen Städten Schneisen für Dreck, Lärm und tödliche Gefahr.

VERKEHRSWENDE

Für das Erreichen des 1,5°C-Ziels braucht es neben der zügigen Umsetzung der Energiewende auch eine Verkehrswende. Es gilt den Mobilitätssektor schnellstmöglich umzustellen auf „effizient – elektrisch – erneuerbar“ (kurz E3mobil). Diese Verknüpfung erzielt viele Synergieeffekte, repariert die bisherigen politischen Versäumnisse und erleichtert den notwendigen Wandel zu einer emissionsarmen und nachhaltigen Mobilität. „Voraussetzung wären nun passende politische Rahmenbedingungen der neuen Bundesregierung“ ergänzt Thomic Ruschmeyer vom BSM.

Resümee

Wir haben keine Wahl, keine weitere Chance. Die Zeit drängt, es bleiben uns nur sehr wenige Dekaden, um die notwendigen Änderungen umzusetzen. Gerade im Verkehrssektor besteht großer Handlungsbedarf, aber auch ein großes Potential für eine schnelle Reduktion nicht nur der THG-Emissionen, sondern auch vieler anderer schädlicher Auswirkungen des alltäglichen Verkehrs.

"Es gilt zeitnah im fließenden Verkehr die Richtung zu wechseln, wohlwissend, dass wir bei unserer aktuellen hohen Geschwindigkeit auch etwas ins Schleudern kommen könnten. Aber wir haben keine Wahl!" fasst Thomic Ruschmeyer als BSM-Vorsitzender dies zusammen.